Das Projekt „Digit“ des WDR ermuntert die Menschen Nordrhein-Westfalens zur gemeinsamen Gestaltung eines „Archivs des analogen Alltags“. Jeder kann online unter digit.wdr.de seine analogen Bildschätze teilen und sich mit anderen Nutzern austauschen, so die Idee hinter der Digitalisierungs-Plattform. Gleichzeitig werden die Inhalte vor dem Verfall geschützt.
Es ist ein Dienstagmorgen im November 2013 in Köln. Stefan Domke und David Ohrndorf sitzen vor ihren Schreibtischen in einem Bürogebäude des Westdeutschen Rundfunks. Die anderen Räume der dritten Etage stehen leer. „WDR 2 zieht gerade hierhin um“, erklärt Stefan Domke zur Begrüßung. Er ahnt, dass leergeräumte Büromöbel auf dem Flur einen komischen Eindruck auf Besucher ausüben könnten.
Digit ist #Neuland
Die Schaffung eines „Archivs des analogen Alltags“ ist in vollem Gange, sagt Domke. Er ist der Initiator von Digit und hat bei den Entscheidungsträgern des Westdeutschen Rundfunks um die Realisierung des Projektes gekämpft. Beim WDR sei das eben so, man müsse Geduld mitbringen und sich mit den Strukturen anfreunden, wenn man eine Idee umsetzen möchte. Domke spricht ohnehin lieber über die Funktionsweise seiner Plattform. Dann redet er sich schnell in Rage. Es fallen Wörter wie „Sharing Community“, „analoger Zerfall“ und sogar der Begriff „#Neuland“.
@fiene der wdr hat mit dem digit-Projekt #Neuland betreten. Kein Witz. #goa13— Stefan Domke (@stedo1305) 21. Juni 2013
Der WDR habe mit Digit „#Neuland“ betreten, teilte Stefan Domke im Juni 2012 via Twitter mit. Dabei fühlt er sich verpflichtet zu betonen, dass es sich bei der Aussage nicht um einen Witz handelt. Das Projekt betrete sogar auf mehreren Ebenen Neuland, ergänzt er. Es sei das erste Mal, dass eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt so intensiv mit nutzergenerierten Inhalten arbeitet. Außerdem werde Digit-Nutzern durch den Umgang mit altem Bildmaterial ein gewisses Maß an Medienkompetenz vermittelt. Somit sei sogar ein öffentlich-rechtlicher Auftrag erfüllt.
Alte Schätze teilen
Auf digit.wdr.de (siehe Foto) kann sich jeder kostenlos registrieren und seine Foto- und Video-Schätze mit anderen Nutzern teilen. Dabei richtet sich die Plattform an alle Personen, die in Besitz von altem Bildmaterial sind. Die Beweggründe dafür, das private Material der Öffentlichkeit zu zeigen, sind vielfältig. „Manche wollen ihre Aufnahmen einfach vor dem ,Vergessen‘ schützen und wieder andere erhoffen sich sogar Aufschluss über die oftmals historischen Motive“, erklärt David Ohrndorf, der am Digit-Konzept mit beteiligt war. Er betreut die Plattform seit der Onlinestellung Ende 2012. In seinen Aufgabenbereich fällt unter anderem die Sichtung der hochgeladenen Dateien. Die Überprüfung der Bilder sei notwendig, da es durchaus vorkommt, dass urheberrechtlich geschützte Fotos oder professionell produzierte Videos hochgeladen werden. „Genau das suchen wir nicht“, bekräftigt David Ohrndorf. Wer bei Digit mitmachen will, muss dies mit Amateurmaterial tun, für das er selbst die Rechte besitzt. Thematische Einschränkungen gibt es aber nicht. Obwohl, Nacktbilder oder Besäufnisse würde man nicht veröffentlichen, alles andere mit Alltags-Bezug, das nicht jünger als die 90er-Jahre ist, nehme man jedoch gern.
Historisch wertvolles Material
In einem weiteren Gebäude, schräg gegenüber dem Arbeitsplatz der Digit-Gründer, arbeitet Hans Hauptstock. Auf seinem Türschild steht „Westdeutscher Rundfunk: Dokumentation Video“. In dem Büro stapeln sich alte Filmrollen, Kassetten und CDs in allen Variationen. Eines müsse er gleich zu Beginn klarstellen, sagt Hauptstock einführend. Der Begriff „Digitalisierung“ sei undeutlich, jeder meine damit etwas anderes, und er greife oftmals zu kurz. „In den Rundfunkanstalten geht es bei der Digitalisierung darum, aus Filmmaterialien, die aktuell nur als Unikat existieren, beispielsweise auf einem Band, Files zu erzeugen.“ Von „Files“ spricht Hauptstock immer dann, wenn er einen digitalen Zahlencode meint, bestehend aus Nullen und Einsen. Diese Datei wird dann auf einem Server abgelegt, damit Redakteure einfacher und zeitgleich auf das selbe Material zugreifen können. Das erleichtert wiederum den Produktionsablauf und ermöglicht ein schnelleres und somit kostengünstigeres Arbeiten. Beim WDR nennt sich dieses System A.D.A.M.
WDR-Digit sei deshalb so interessant für das Video-Archiv, erklärt Hans Hauptstock, weil Filmmaterial gerettet werde. „8-Millimeter-Normalfilm, Super-8 und in wenigen Fällen 16-Millimeter-Film. Das sind Formate, deren Inhalte verloren gehen“, führt Hauptstock aus. Die Leute wüssten einfach nicht mehr, was sie mit den alten Filmrollen anfangen sollen. Die Motive seien aber oft fernsehtauglich und historisch wertvoll. Das zeigt sich vor allem darin, dass bereits über 120 Fernsehbeiträge auf Basis des Digit-Materials produziert wurden. Für die gesammelten Beiträge wurde inzwischen eigens eine WDR.de-Unterseite eingerichtet, auf der besondere Filmfunde gewürdigt werden. Dort ist zum Beispiel auch die Landung des Spaceshuttles am Flughafen Köln-Bonn zu finden, die Raumfahrt-Fan Wilfried Kohtz filmisch einfangen konnte.
Stefan Domke weiß die gute Zusammenarbeit mit dem WDR-Archiv zu schätzen. „Das war nicht immer so“, sagt er. „Weder David noch ich sind gelernte Archivare. Das hat am Anfang natürlich für gewisse Vorbehalte gesorgt.“ Inzwischen arbeiten die Archivare und die Digit-Journalisten jedoch Hand in Hand. Das professionelle Verschlagworten der Videos ist beispielsweise etwas, dass die Digit-Redakteure nicht alleine leisten können. Die Verschlagwortung ist aber essentiell, damit relevantes Material von recherchierenden WDR-Redakteuren später gefunden werden kann.
Zu Besuch in Aachen: „Wir gehen in Material unter“
Es ist viertel vor Zehn an einem Samstag Morgen, als die Digit-Mitarbeiterin Stefanie Voos die Räume der WDR-Studios in Aachen betritt. „Digit vor Ort“ nennt sich die Aktion, bei der das Digit-Team verschiedene Städte in ganz Nordrhein-Westfalen besucht. Bereits Tage zuvor startete der Westdeutsche Rundfunk seinen Aufruf. Die Menschen in der Region Aachen sollten doch bitte mit ihrem historischen Bildmaterial vorbeikommen, um es zur Digitalisierung zur Verfügung zu stellen und so verloren geglaubte Schätze wieder zu finden. Bei jedem dieser Termine werden unzählige Fotos und bis zu 2000 Filmrollen abgegeben. Stefan Domke gesteht: „Wir gehen in Material unter“, und kann sich dabei ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen.
Genug von „Kommunionen, Konfirmationen und Hochzeiten“
Franz Delhaye ist Rentner und einer von vielen, die dem Aufruf nach Aachen gefolgt sind. Er ist sich zwar unsicher, ob das, was ihm gefällt, auch bei anderen Leuten auf Interesse stößt, aber versuchen möchte er es trotzdem. Die Fotoaufnahmen eines Milchmannes aus den 30er-Jahren haben es ihm angetan. „Das ist ja eine Situation, die heute nicht mehr vorkommt. Für diese Zeit war sie jedoch prägend“, argumentiert er. Seine Sorge ist unberechtigt, beruhigt Stefanie Voos. Man habe genug von „Kommunionen, Konfirmationen und Hochzeiten aus den 70er-Jahren“, Material wie das des Milchmannes sei aber herzlich willkommen.
Inzwischen wurde bereits der mobile Super-8-Projektor angeschaltet. Auf dem Bildschirm ist unter anderem der junge Albert Fohzer zu sehen. Heute ist Fohzer 40 Jahre alt und steht kopfschüttelnd vor dem Monitor. Ursprünglich wurde das Band eingelegt, da die Beschriftung eine Feier für Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg versprach. Stattdessen sieht man nun einen herumtollenden kleinen Jungen mit seinem Vater. Für Albert Fohzer war es eine Überraschung. „Mich stimmen solche Bilder immer melancholisch.“ Es sei zwar einerseits schön, dass er selbst zu sehen ist, aber viele andere auf den Bildern seien sicherlich bereits tot.
Kai Strietzel gibt die Super-8-Sammlung seines Vaters ab. Von 1969 bis 1976 habe dieser das Hobby Film aktiv betrieben, dann sei es ihm zu zeitintensiv geworden. Bis 1973 sind dem Sohn alle Filme bekannt. Das Band von 1976, dass die gemeinsame Kenia-Reise mit seinem Vater dokumentiert, habe er aber noch nie gesehen. Jetzt ist er 53 Jahre alt und allmählich sei es an der Zeit, den Inhalt dieser Aufnahmen zur Kenntnis zu nehmen. „Die Digitalisierung kann aber bis zu sechs Monate in Anspruch nehmen“, bremst ihn Stefanie Voos vorsichtig. Kai Stritzel reagiert gelassen. „Die Filmrollen haben gerade 37 Jahre im Keller gelegen“, kontert er im Rausgehen. „Sechs Monate schaffen wir jetzt auch noch.“ Draußen auf einer Bank erwartet ihn schon sein Vater.
Die Digitalisierung des Filmmaterials nimmt soviel Zeit in Anspruch, da das gesammelte Material zunächst gesichtet werden muss und erst danach an einen externen Digitalisierer abgeben werden kann. „Der WDR hat mit den Amateur-Aufnahmeformaten selbst nie gearbeitet“, erklärt Stefan Domke. Man sei also gezwungen, die tatsächliche Digitalisierung auszulagern. „Wir bekommen das Material anschließend als Datei überspielt und müssen es dann noch nachbearbeiten und gegebenenfalls online stellen.“ Erst wenn Kai Strietzels Super-8-Filme alle Schritte durchlaufen haben, bekommt er sie auf einem USB-Stick zugesendet.
Audio-Slideshow: Die Beweggründe der „Digit Vor Ort“-Besucher
Kuriose Funde gehören zum Alltag
Falsch beschriftete Filmrollen wie die von Albert Fohzer sind bei „Digit Vor Ort“-Terminen keine Seltenheit. Eine besonders schöne Anekdote sei die eines älteren Ehepaars um die 70, beginnt Stefan Domke. „Der Mitarbeiter legte den Film ein und schon innerhalb der ersten Sekunden war klar, dass das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Es waren Sauna-Szenen, die dann auch relativ schnell ans Eingemachte gingen“, schmunzelt Domke. Daraufhin habe man sich peinlich berührt voneinander verabschiedet.
Auch in der Online-Community von Digit stößt man auf Kuriositäten. Ein typisches Beispiel dafür sind die Eisbären-Bilder. „Da sieht man jemanden, der ein Eisbären-Kostüm trägt und ein Kind im Arm hält, und sagt sich erstmal, dass das vielleicht nur eine einmalige Aktion gewesen ist“, witzelt David Ohrndorf. Im Rahmen der letzten Monate seien dann aus ganz verschiedenen Quellen etliche Eisbären-Fotos eingegangen. Daraufhin hat die Digit-Redaktion recherchiert und herausgefunden, „dass es wohl tatsächlich mal ein Trend gewesen ist, sich im Urlaub mit einem Eisbären fotografieren zu lassen“. Ob Adria oder Ostsee, das sei dabei sekundär gewesen.
Ungewisse Zukunft
In der Digit-Datenbank befinden sich inzwischen bereits über 20.000 Dokumente und etliche sind noch in der Verarbeitung. Das Prädikat „Erfolgreich“ lässt sich der Plattform somit ohne Zweifel ausstellen. Das bestätigt auch die Nominierung der Website zum Grimme-Online-Award 2013. Um die Zukunft des Digit-Projektes ist es dennoch unsicher. Auf einen Endzeitpunkt habe man sich zwar nicht geeinigt, verabschiedet sich Stefan Domke, allerdings genauso wenig auf die ewige Fortführung des Projektes.
Robert Rack